Gegen die Hoffnungslosigkeit: Mit Kohärenzgefühl der Machtlosigkeit begegnen
von Dr. Pia Lamberty
Seit Jahren gibt es kaum eine Pause, schlimme Meldungen reihen sich aneinander: Der Rechtsextremismus steigt, Kriege und gewalttätige Konflikte nehmen zu, die Klimakrise wird immer dringlicher, auch die Pandemie hatte einen zusätzlichen Einfluss auf die Gesellschaft. In solchen Zeiten braucht es besonders das Engagement von Menschen. Je mehr Belastungen es aber gibt, desto schwieriger wird es nicht die Hoffnung zu verlieren.
Psychische Belastungen und die Folgen für die Demokratie
Verschiedene Erhebungen zeigen, dass die psychischen Belastungen in den letzten Jahren zugenommen haben. Junge Menschen verbringen ihre Jugend im Dauerkrisenmodus, was sich auch auf ihre psychische Verfassung auswirkt: Depressionen, Angstzustände und andere psychische Erkrankungen nahmen seit 2020 zu, viele Kinder und Jugendliche sind psychisch belastet. Jugendliche fürchten sich vor Kriegen, vor Zunahme von Extremismus oder der Klimakrise.
Psychische Belastungen haben nicht nur individuelle Konsequenzen, sondern können auch gesamtgesellschaftliche und demokratiegefährdende Auswirkungen haben. Forschungen zeigen, dass der erlebte Kontrollverlust mit einem stärkeren Verschwörungsglauben einhergehen oder die Tendenz für magisches Denken steigern kann.
Auch die Rolle von Einsamkeit für die Demokratie wurde zuletzt breiter diskutiert. Laut dem TK-Einsamkeitsreport 2024 gaben 17% der Befragten an, dass sie sich manchmal oder häufig einsam fühlen würden. Studien zeigen, dass Einsamkeit auch antidemokratische Einstellungen verstärken kann: „Der Zuspruch zu unserer Demokratie hat auch damit zu tun, wie stark sich Individuen mit der Gesellschaft verbunden fühlen“, heißt es dazu in der Studie „Extrem einsam? Eine Studie zur demokratischen Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland“. Menschen, die das Gefühl haben, politisch nicht gehört zu werden, haben auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, an Verschwörungserzählungen zu glauben oder sogar politische Gewalt zu billigen.
Mit dem Kohärenzgefühl der Machtlosigkeit begegnen
Die Theorie der Salutogenese wurde in den 1970er Jahren von dem israelisch-amerikanischen Soziologen Aaron Antonovsky begründet. Salutogenese beschreibt den Entwicklungs- und Erhaltungsprozess von Gesundheit und steht damit im Gegensatz zur Pathogenese. Gesundheit wird in dieser Theorie als aktiver Prozess verstanden. Ein zentrales Konzept in dieser Theorie ist das sogenannte Kohärenzgefühl. Je stärker das Kohärenzgefühl, desto besser können Menschen auch in belastenden oder Notfallsituationen agieren.
Das Kohärenzgefühl ist – ähnlich wie die Resilienz – ein zentraler Faktor, wenn es darum geht, wie Menschen belastende Ereignisse überstehen. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp beschreibt den Begriff Kohärenz als: „das Gefühl, dass es Zusammenhang und Sinn im Leben gibt, dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal unterworfen ist.“
Das Kohärenzgefühl basiert auf drei Säulen:
Verstehbarkeit: Es hilft Menschen dabei, besser mit Belastungen umzugehen, wenn sie verstehen, woher diese kommen. Wissen ist also nicht nur Selbstzweck, sondern hat auch eine psychologische Funktion. Es ist also wichtig zu sehen, warum beispielsweise gerade die AfD so stark ist oder welche Faktoren die Klimakrise begünstigen. Je besser wir verstehen, was um uns herum passiert, desto besser können wir auf diese Gefahren auch reagieren.
Handhabbarkeit: Oft fühlt man sich von den Problemen dieser Zeit überwältigt und weiß nicht weiter. Es hilft sich zu überlegen, welchen Beitrag man selbst leisten kann, um das Problem einzudämmen. Welche Ressourcen hat man zur Verfügung? Welche Initiativen gibt es? Welche Kompetenzen habe ich, um dabei zu helfen, den Gefahren zu begegnen?
Sinnhaftigkeit: In der Krisenhaftigkeit der Gegenwart kommen wir oft nicht dazu innezuhalten. Dabei ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, warum sich das Engagement lohnt. Welche Werte, welche Menschen sind mir wichtig? Warum lohnt es sich für eine freie Gesellschaft oder für die Demokratie einzustehen? So macht man sich bewusst, dass es Ziele oder Projekte gibt, für die es sich zu engagieren lohnt.
Das Modell lässt sich sowohl individuell nutzen als auch in breiteren gesellschaftlichen Kontexten anwenden. Behörden, Institutionen und Medien können eigene Kommunikationsstrategien und Interventionsansätze durch die Anwendung der Kohärenztheorie so gestalten, dass Menschen eher Unterstützung erfahren und besser mit den Herausforderungen der Gegenwart agieren können.
Kohärenzgefühl und Demokratie: Psychologische Expertise praktisch nutzen
Die psychische Erschöpfung vieler Menschen kann dazu führen, dass sie sich weniger politisch engagieren oder sich ganz aus demokratischen Prozessen zurückziehen. Insbesondere in ländlicheren Regionen stehen demokratisch Engagierte oft unter massiven Druck. Eine resiliente Gesellschaft benötigt daher psychosoziale Unterstützung, um den langfristigen Erhalt der Demokratie zu sichern. Wenn Menschen keine mentalen Kapazitäten mehr haben, sich für die Demokratie einzusetzen, schadet das der Gesellschaft.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychologie fordert eine stärkere Nutzung psychologischer Expertise als Schlüssel für gesellschaftliche Resilienz. „Viele dieser Krisen sind von menschlichem Verhalten und Entscheidungen geprägt und erfordern daher fundierte, wissenschaftlich basierte Lösungsansätze, die nicht nur den Menschen, sondern auch die übergeordneten Strukturen und Systeme in den Fokus nehmen“, heißt es dazu im Positionspapier „Forderungen an die Parteien zur Bundestagswahl 2025“.
Leseempfehlungen:
Van Prooijen, J. W., & Douglas, K. M. (2017). Conspiracy theories as part of history: The role of societal crisis situations. Memory studies, 10(3), 323-333.
Lamberty, P. (2022). Causes of belief in conspiracy narratives and recommendations for successful risk communication in healthcare. Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, 65(5), 537-544.