Psychologie des Rechtsextremismus: Die Freiheit der anderen - Reaktanz und die Politisierung gefühlter Verbote

von Pia Lamberty

Gesellschaftspolitische Debatten der letzten Monate scheinen sich vielfach um ein Thema zu kreisen: Unsere Freiheit und der reale/ angebliche/ scheinbare Verlust eben dieser. Neben Fragen, die sich um echte gesellschaftliche Konflikte und Probleme drehen, wie beispielsweise die Rolle der Eigenverantwortung bei der Bewältigung der Klimakrise, sehen wir im öffentlichen Diskurs regelmäßig eine Instrumentalisierung und Sinnentleerung des Freiheitsbegriffs durch Rechtsextreme und Propaganda.

Freiheit in seiner Gesamtheit bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Regulationen, sondern auch die Verantwortung, die damit einhergeht. Je weniger formelle Regelungen es gibt, desto stärker ist man darauf angewiesen, dass Menschen eigenverantwortlich ihr eigenes Handeln kritisch reflektieren. Im öffentlichen Diskurs wird aber nur eine Schmalspurvariante von Freiheit diskutiert, Freiheit light. Ich kann und darf alles, gesellschaftlich übernehme ich aber bitte keine Verantwortung.

Die Psychologie der Reaktanz

In der Psychologie wird das Thema im Kontext der sogenannten Reaktanz-Theorie erforscht. Reaktanz beschreibt Abwehrmechanismen auf den (vermeintlichen) Entzug von Freiheit. Wer das Gefühl hat, in seiner oder ihrer Wahlfreiheit beschnitten zu werden, tendiert laut der Theorie dann eher dazu, die bedrohte Freiheit durch verschiedene Wege wiederherzustellen. Die Intensität der Reaktanz hängt von der Wichtigkeit der bedrohten Freiheit, die empfundene Größe der Einschränkung und den Erwartungen an die Selbstverständlichkeit der Freiheit ab.

Gefühle von Reaktanz können verschiedene Konsequenzen haben:

  • Direkte Wiederherstellung der vermeintlich verlorenen Freiheit ("Jetzt wähle ich erst recht rechtsextrem").
  • Indirekte Wiederherstellung der Freiheit durch Ersatzhandlungen (Sticker am Auto "Der echte Kenner fährt Verbrenner").
  • Attraktivitätsveränderungen (Die verbotene Alternative wie beispielsweise ein Dieselauto wird attraktiver).
  • Aggressionen gegenüber denen, die die vermeintlichen Verbote aussprechen

Reaktanz ist etwas anderes als Kritik. Kritik bezieht sich auf reale Probleme und versucht diese zu verbessern. Das kann natürlich auch mit unterschiedlichen Emotionen einhergehen, wie beispielsweise Wut über bestehende Ungerechtigkeiten. Reaktanz ist dagegen eher als destruktiver und trotziger. Wer beispielsweise einzelne Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus kritisiert, ist nicht gleich reaktant. Wer allerdings durch die Straßen rennt und in Zeiten, in denen viele Menschen an dem Virus gestorben oder schwer erkrankt sind, “Ein bisschen SARS muss sein” singt, muss sich vielleicht doch den Vorwurf gefallen lassen, dass Reaktanz hier eine Rolle spielt.

Rechtsextremismus und Reaktanz: Die Coronapandemie als Beispiel

Die Erhebungen von „COSMO – COVID-19 Snapshot Monitoring“ konnten diesen Prozess auch empirisch belegen: „Wer mehr Reaktanz empfindet, weiß weniger über Schutzmaßnahmen, schützt sich weniger, hat weniger Vertrauen in die Regierung und das RKI und lehnt die Maßnahmen eher ab“, heißt es dazu beim Forschungsprojekt "Demonstrationsbereitschaft und Reaktanz" der Universität Erfurt. In den ersten zwei Jahren der Coronapandemie empfanden zwischen zwanzig und in Spitzenzeiten über 47 Prozent der befragten Menschen hohe bis sehr hohe Reaktanz. Der höchste Wert war im März 2021 zu verzeichnen. Zu dieser Zeit nahm die Impfung langsam Fahrt auf, Schnelltests standen einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung. Gleichzeitig gab es in dieser Zeit auch Verwirrungen und Unsicherheiten in Bezug auf die Impfung mit AstraZeneca, nachdem der Impfstoff in Verbindung mit Thrombosen der Hirnvenen stand und die Impfempfehlung angepasst wurde.

Die Gesichtsmaske ist eigentlich erst einmal etwas gänzlich unpolitisches, ein mechanischer Schutz vor verschiedenen Partikeln oder Erregern. In der Coronapandemie wurde aus dem Mundschutz dann aber ein vermeintlicher „Maulkorb“. Verschwörungsideolog:innen und andere Rechtsextreme inszenierten die Maske zum Symbol der vermeintlichen Unterdrückung von Menschen und schürten so den Ärger über die Maßnahmen. Das Nicht-Tragen der Maske wurde immer mehr zum Identitätsmerkmal, mit dem man seine Ablehnung gegen Maßnahmen, oft aber auch Staat und Politik generell, zum Ausdruck bringen konnte. So wurde über das gezielte Schüren von Reaktanz der Boden bereitet für Populismus, Verschwörungsdenken und die Tür für den Rechtsextremismus geöffnet.

Stimmungsmache gegen das „Wahrheitsministerium“ und „Meinungsdiktatur“

Gesellschaftlich wird auch breiter darüber diskutiert, welche Maßnahmen gegen Desinformation sinnvoll erscheinen. Dabei geht es auch um Fragen der Meinungsfreiheit und der Einschränkung freier Rede. Aus autoritären Staaten wie Russland kennt man es, dass sogenannte „Fake News“-Gesetze immer wieder eingesetzt werden, um kritische Stimmen zu unterdrücken.

Neben der echten Sorge um die freie Meinung und der fachlichen Auseinandersetzung mit den Grenzen des staatlichen Umgangs mit Desinformation, finden sich auch vielfach populistische Diskurse, in denen die gesellschaftlich relevante Eindämmung von Desinformation als „Meinungsdiktatur“ oder „Gehirnwäsche“ inszeniert wird. Bereits 2020 forderte die AfD den „Aktionsplan gegen Desinformation“ der EU-Kommission zurückzuweisen, da dieser auf „gezielte Meinungslenkung hinauslaufen“ würde.

Auch bei anderen Themen kann Reaktanz eine Rolle spielen – beispielsweise im Kontext der Klimakrise. Studien zeigen, dass Konservative in den USA Maßnahmen gegen die Klimakrise eher ablehnen, vermittelt durch psychologische Reaktanz. Die Konfrontation mit den Folgen der Klimakrise führte hier zu einer Reduktion von Handlungsbereitschaft. Rechtsextreme Akteur:innen inszenieren sich auch oft als Opfer einer vermeintlichen „Meinungsdiktatur“. Wenn dann soziale oder rechtliche Konsequenzen für rassistische oder menschenverachtende Aussagen drohen, reagieren sie mit Trotz und verstärkter Wiederholung ihrer Positionen („Jetzt erst recht!“). Auch Maßnahmen der Gleichstellung und Diversität werden oft als Bedrohung der eigenen Identität wahrgenommen. Die Reaktion ist häufig eine Übersteigerung „traditioneller“ Werte und das aggressive Zurückweisen von Veränderungen.

Fazit: Politisierung von Emotionen

Die gefühlte Freiheit ist dann bedroht, wenn Menschen glauben, sie müssten eigentlich die freie Wahl haben, die aber eingeschränkt wurde und das Thema ihnen wichtig ist. Genau das nutzen Rechtsextreme und Rechtspopulist:innen gezielt aus: Themen werden insbesondere als Verlust der individuellen Freiheit geframed, andere Akteur:innen bspw. als "Verbotsparteien" inszeniert. Der Stellenwert des Themas wird überbetont und überzogen, dadurch wird der Reaktanzeffekt verstärkt. So werden Ärger und Wut genutzt und politisiert. Durch Reaktanz werden gesellschaftliche Veränderungen erschwert. Maßnahmen werden abgelehnt, es kommt zu einer Abwehr derer, die für Veränderung stehen. Die Rolle von Emotionen für die Radikalisierung wird häufig unterschätzt. Dabei sind gerade solche Gefühle oft Einfallstor für die Radikalisierung – sowohl online als auch in der analogen Welt.

cemas.io

Psychiologische Interventionen gegen Desinformation

Sprechen wir über Desinformation, entsteht oft ein falscher Eindruck von Hilflosigkeit. Jedoch haben Forscher:innen einen Kanon psychologischer Interventionen entwickelt, um den Einfluss von Desinformation einzudämmen. Einige dieser Maßnahmen helfen sogar dabei, uns proaktiv zu schützen, bevor wir überhaupt mit Desinformation in Kontakt kommen. (17.04.2023)

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